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10. Alles fließt

In Kalkutta hatte das Empire fast 150 Jahre seinen Sitz, nach Shimla flohen die Briten vor der Hitze des Sommers

„Die Welt ist eine Brücke“, heißt ein indisches Sprichwort. „Gehe, aber baue nicht darauf. Denn alles ist vergänglich.“ Shanti, unserem Guide, fällt das an der Howrah-Brücke ein. Als er erzählt, dass sich jeden Tag an die 50 000 Fahrzeuge und zwei Millionen Menschen über die filigrane Stahlkonstruktion von 1943 schieben und drängeln, beruhigt uns nur der feste Glaube an das Können der britischen Ingenieure. Kalkuttas Wahrzeichen hat sich als meist benutztes Nadelöhr der Welt einen Namen gemacht.

Am Babu Ghat, den Ufertreppen unter der Brücke, wirft ein junger Mann eine Lakshmi-Statue aus Lehm in die trübe Brühe, die hier Hooghly heißt, ein Nebenarm des Ganges. Einen Moment treibt sie auf der Oberfläche, versinkt und löst sich auf. Auch hier alles im Fluss. Für Hindus ist das Leben auf Erden nur eine Zwischenstation. Dennoch sind Geld und ein Sohn, der der Familie später die Mitgift erspart, irdische Heilsbringer in einem Land, in dem die Rupies extrem unge­recht verteilt sind. Und Lakshmi ist im Götterhimmel für Wohl­stand und Fruchtbarkeit zuständig.

Nicht erst Mutter Teresa alarmierte die Welt wegen des Elends der Stadt, die einmal die modernste des britischen Riesenreiches war. Offiziell leben heute Zweidrittel der rund 14 Millionen Einwohner in Slums. Straßen versinken in Dreck. Krähen, Schweine, Hunde und Ziegen fühlen sich in der Gosse wie zu Hause. Für Glanz sorgen die leuchtend rot- und orangefarbenen Saris der Frauen. Eine Sinnespracht, die kurz vergessen lässt, in welcher Armut die Menschen leben. Gegensätze, die normal sind in Kalkutta.

Die Massen, die von der Brücke quellen, bringen das Leben der indischen Großstadt auf Hochtouren. Knatternde, hupende Scooter zwängen sich zwischen gelbe Taxis, Fahrradrikschas, Motorroller, alte Ambassador-Limousinen und dröhnende Lastwagen. Fliegende Händler verkaufen am Straßenrand Chilischoten, Kautabak, Messingkrüge, Plastikschuhe und Armreifen. Schuhputzer, Briefeschreiber, Zahnzieher, Haarschneider und Ohrreiniger belegen die Gehwege, Obdachlose, Kranke und Hungernde. Überall Menschen. Alle sind auf der Suche nach einem Broterwerb.

Glanz und Elend prallen hier aufeinander. In den Vierteln BBD Bagh und Chowringhee, wo fast 150 Jahre lang das koloniale Herz Indiens pochte, zeigt sich ein bizarrer Mix aus pompösen Re­präsenta­tionsbauten im viktorianischen Stil, Villen, Memoriale, Moscheen, Hindu- und Jaintempeln und Hochhaus-großen Plakaten, die Shakes­peare-reife Leinwanddramen ankündigen. Seit 1774 hatte das Empire hier seinen Sitz; erst 1911 zog die Regierung ins nördlichere Delhi um. Von der großen Vergangenheit ist der Ruhm als Kulturmetropole Indiens geblieben. Kalkutta zählt 29 Theater, 33 Museen und 114 Kinos. Fast alle bekannten Dichter stammen von hier, auch Rabindranath Tagore, der Goethe Indiens. In Bengalen ist die geistige Elite des Landes zu Hause.

Die Briten müssen Kalkutta gehasst haben wie die Pest. Die Pest, das waren die aufsässigen Bengalen, die Tropenhitze und die Malaria. Wenn im März am Gangesdelta die Temperatur auf 40 Grad zu klettern und Anopheles auszuschwirren begannen, verließen Regierung und Verwaltung samt Familien und Hofstaat Kalkutta wie die Ratten das sinkende Schiff. Gut einen Monat dauerte die strapaziöse Reise per Boot, Elefant, Ochsenwagen und Sänfte, ehe sie Shimla, ihre 1864 gegründete Sommerresidenz auf 2200 Höhenmetern mitten im schneebedeckten Himalaja-Gebirge, erreicht hatten. Erst 1903, als die Bahnstrecke fertig war, ging es schneller. Der ganze Haushalt war im Gepäck, Akten, Ballkleider und natürlich die Diener. Manchmal blieb die Regierung British-Indiens Kalkutta bis zu neun Monaten fern.

Im höchsten Gebirge der Erde waren Hektik, Lärm, Gestank und die Menschenmassen Kalkuttas sofort vergessen. Denn keine Stadt in Indien ist wie Shimla. Bei der Ankunft mutet die Hauptstadt des Bundesstaates Himachal Pradesh mit 130 000 Einwohnern wie ein Skiort in den Alpen an. Solide Steinhäuser besetzen die Hänge, hoch gewachsene Fichten und kühle Luft. Nur die Affenhorden, die am Straßenrand hocken und spielen, passen nicht ins alpine Bild. Bei genauerem Hinsehen wirkt Shimla wie die Kopie einer englischen Kleinstadt – Postamt, Feuerwache, anglikanische Kirche und Theater. Die Straßen glänzen in viktorianischer Ordentlichkeit. Nirgendwo Unrat oder rote Betelspuck­flecken. Überall Papierkörbe und Hinweisschilder, die Stadt sauber zu halten. An der Mall, der autofreien Prachtstraße, die bis 1918 für Inder verboten war, reihen sich Häuser im Cottage-Stil, Restaurants, Privatclubs und Shops. Unter den Augen des bronzenen Gandhi auf dem weiten Kirchplatz mit dem großen Musikpavillon flanieren Himachalis ganz selbstverständlich im westlichen Anzug, andere im typischen dunklen Punjabi-Dress, einer Hose mit knielangem Hemd darüber. Viele indische Touristen tummeln sich auf dem Platz, wo sie für einen Reitrundgang Schlange stehen. Auch sie finden diese Stadt extrem exotisch.

Die ehemalige Residenz der britischen Vizekönige, 45 Fußminuten vom Zentrum entfernt, hat einen Logenplatz zur Bergwelt und erfüllt alle Kriterien eines ausgewachsenen Schlosses - steinern, nüchtern und imperial. Im Tanzsaal, in dem heute die Bibliothek der Universität Platz hat, schwebte noch der letzte Vizekönig, Graf Mountbatten mit seiner Lady über das Parkett. Er blieb jedoch nur vier Monate, von April bis August 1947; dann war Indien unabhängig.
Alles ist vergänglich, sagt Shantis Sprichwort. Für Shimla blieb von heute auf morgen die Zeit stehen. Die Briten gingen, das Flair blieb. In einigen Seitengassen unterhalb der Mall hat sich Bazar-Charakter breit gemacht. Lärm und Hektik sind zu spüren, erinnern aber noch lange nicht an Kalkutta, auch weil sie dafür zu sauber sind.

Indische Duftwolken von Kümmel, Zimt und Honig hängen in der Luft. An mancher Ecke sitzen in Wollstoffe eingehüllte Frauen am Boden, die Mendhis auf Frauenhände malen. Flickschuster bieten ihre Dienste an, Devotionalienverkäufer die Opfergaben für den Affengott Hanunman, dessen Tempel weit außerhalb auf dem Jacco Hill liegt. Shimla wird langsam indisch.

Berliner Zeitung
© Beate Schümann

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