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8. Der Dicke kommt

Wider des Winters Langeweile: Wenn der „Bonhomme de Carnaval“ durch die Gassen stapft, ist wieder Karneval in Québec

Mächtige Schneepolster vermummen die Dächer der Stadt. Eiszapfen wetteifern an den Dachrinnen um Zentimeter. Sie beben leise klirrend, wenn die Glocken von Notre-Dame-de-Québec zu schlagen beginnen. Aus den Schornsteinen zupft der strenge Wind Rauchsträhnen. In den Pflastersteingassen hallen das Geklapper und das Glöckchengeläut der Pferdedroschken. Würde da nicht eine riesige von Schneeräummaschine durch eine Seitenstraße donnern, das Wintermärchen wäre perfekt. Doch der dicke Brummer verschwindet wieder, und nur ein paar Dodges und Chevys schnurren nach Feierabend leise durch die Altstadt.

Januar in Québec. Die 700 000-Einwohner-Stadt am St.-Lorenz-Strom erinnert an das England von Charles Dickens. Aber nur im ersten Moment, denn in der Hauptstadt der gleichnamigen kanadischen Provinz ist man stolz darauf, die Wiege der französischen Kultur in Amerika zu sein. Samuel de Champlain gründete sein Fort 1608 auf der steil abfallenden Anhöhe. Den Briten gelang es erst 150 Jahre später, das Bollwerk zu erobern. Allerdings waren die englischen Rotröcke für den Bau der Zitadelle verantwortlich, die zusammen mit der Stadtmauer, der einzigen komplett erhaltenen auf dem nordamerikanischen Kontinent, und der Altstadt von der Unesco zum Weltkulturerbe geadelt wurde. „Québec City“ hört hier dennoch niemand gern.

Trotzig löffeln die Québécois bis heute ihr Zwiebelsüppchen mit Croûtons, trinken Pernod und sprechen französisch. Das nonchalante gallische laissez-faire und der angelsächsische Arbeitseifer geben in Québec eine sympathische Allianz ein. Obwohl die mit Lichterketten behängten Weihnachtsbäume noch immer stehen, bereiten sich die Bewohner längst auf die närrische Zeit des Jahres vor, den Winterkarneval.

„Bonhomme de Carnaval“, der dicke Schneemann, der im Januar das Zepter in der verschneiten Stadt übernimmt, lacht feist von allen Plakatwänden. Das Maskottchen mit der roten Holzfällermütze und dem bunten Strickgürtel holt für zwei Wochen alle hinterm warmen Ofen hervor. Seine Vasallen bauen ihm einen festungsähnlichen Eispalast direkt vor dem Parlamentsgebäude – das Zeichen dafür, dass die politische Macht erst einmal ausgesetzt wird. Da mag der Minister für Tourismus den Winterkarneval noch so kräftig subventionieren.

Während zur gleichen Zeit am Rhein, in Basel und Venedig der Winter lautstark und rauschhaft ausgekehrt wird, hat Bonhomme gegen den rauen Gesellen noch lange keine Chance. Québec liegt zwar auf dem gleichen Breitengrad wie La Rochelle. Doch wer in Québec lebt, muss mit dem Winter seinen Frieden schließen: Nur wenige Großstädte auf der Welt müssen so viel Frost und Schnee ertragen. Mindestens siebzehn Wochen Schnee im Jahr und 245 Tage Frost sind hier so selbstverständlich wie bei uns drei Wochen Rapsblüte im Mai. Die Minusgrade erreichen Polarniveau. Aber wenigstens ist es eine trockene Kälte: die ist leichter zu verkraften.

Die Québécois jammern aber nicht über ihr Leben in der Eisbox, sondern haben längst aus der Not eine Tugend gemacht. Genau genommen treten sie auch nicht gegen Väterchen Frost an, sondern gegen die Langeweile. Mit den Schneeskulpturen in der Rue Ste.-Thérèse, einer langen Vorstadtstraße, fing 1953 alles an. Wer damals in dieser Straße wohnte, schnitzte den langen Winter über vor seiner Haustür Fantasiegebilde aus Schnee. Immer mehr Menschen zog es in die Straße, um die Kunstwerke zu sehen. Mit wachsendem Zuspruch kommerzialisierten gewitzte Strategen das Ereignis. Sie verlagerten es in die Oberstadt und damit in die Nähe der Touristen. Der Zwei-Meter-Mann Bonhomme als Karnevalsmaskottchen kam 1985. Obwohl der Karneval auf keiner gewachsenen Tradition beruht, feiern ihn die Québécois mit großem Enthusiasmus - vielleicht gerade hier, weil man sonst so wenig Tradition hat.
Im Quartier Petit-Champlain, in das jeder Tourist kommt, weil hier noch normannische Häuser aus der frühen Siedlungszeit stehen, beginnt Wochen vorher die eisige Aktivität. Künstler, die sonst Holz zu Souvenirs schnitzen, machen sich mit dem Schweißbrenner ans Werk und modellieren Eisskulpturen. Aus je vier Eisblöcken, die frei von Luftbläschen sein müssen, fertigen sie auf Wunsch jedes Motiv, von Märchengestalten über Karikaturen bis zu satirischen Szenen. Rechtzeitig zum Beginn der fünften Jahreszeit stehen die Kunstwerke vor Haustüren und Geschäften, wo sie im Sonnenlicht glitzern, ohne zu schmelzen.

Bonhomme ist in diesen Tagen im Großeinsatz. Aus den Lautsprechern scheppert seine die Hymne: Bonjour Bonhomme, Bonjour Bonhomme.

Der dickbäuchige Schneemann nimmt an allen wichtigen Veranstaltungen teil, Paraden, Wettkämpfen und anderen Aktivitäten, die im Umfeld des Schlosses Châteaux Frontenac, der ahornblattförmigen Zitadelle und des alten Hafens stattfinden. Der zugeschneite Park Champs-de-Bataille ist Schauplatz von Pferde- und Hundeschlittenfahrten, Snow-Rafting, Ice-Klimbing und Kanurennen auf Schnee. An den Sugar-Shack-Ständen brodelt in großen Kesseln Ahornsirup, den die Verkäufer auf Holzstäbchen wickeln und die dann wie Lollis gelutscht werden.

An der Parkpromenade konkurrieren Künstler aus aller Welt im Internationalen Schneeskulpturen-Wettbe­werb um Preise und Anerkennung. Zwei Wochen haben die Mannschaften Zeit, um an dem zugeteilten unförmigen Schneeklotz zu hämmern, meißeln und fegen, damit er zum Kunstwerk wird.

Höhepunkt des närrischen Winterzaubers ist die „Night Parade“. Lange vor 19 Uhr sind die Straßen nach Charlesbourg völlig verstopft. Die ganze Stadt macht sich mit Wollmützen, gefütterten Fausthandschuhen, mehreren Pulloverschichten und Moonboots auf den Weg, um einen günstigen Stehplatz an der Absperrung zu ergattern. Vorneweg defilieren die Fahnenschwenker mit roten Nasen, danach marschieren die Kapellenspieler, steif wie Pinocchios mit ungeölten Gelenken. Joyeux Carnaval rufen die Cheerleader, während die dreißig verschiedenen Phantasiewagen über den Boulevard rollen. Die Einfälle zeugen von zahmem überseeischem Humor, der von den bissig-satirischen Karikaturen der rheinischen Narren viele Winter entfernt ist. Grelle Kellogg’s-Werbung ziert bis zum Überdruss jeden Wagen, damit am Schluss alle wissen, dass der Cornflake-Produzent den Winterkarneval gesponsert hat.

Nach gut einer Stunde geht die Parade zu Ende. Länger halten es selbst die eisernen Québécois nicht aus. So richtig in Schwung kommt in dieser Kühlbox ohnehin niemand. Die Québécois heizen sich mit „Caribou“, einer Art kanadischen Glühweins, ein bisschen ein. Bei minus 37 Grad bleibt freilich selbst der heißeste Caribou nicht sehr lange am Glühen. Den hochprozentigen Saft verbergen sie in hohlen Spazierstöcken vor dem prohibitionistischen Staat, der Alkohol auf der Straße verbietet. Doch beim Karneval drückt er ganz offiziell mal ein Auge zu. Das Trinken aus den langen Dingern will freilich gelernt sein.

Der größte Zuschauermagnet ist das Kanurennen durch das Packeis des halbzugefrorenen St.-Lorenz-Stroms. Am 4. Februar starten etwa 30 Teams mit ihren Booten, um den an dieser Stelle nur ein Kilometer breiten Fluss in einem wilden Kampf gegen Eisschollen, Strudel und Strömung von der Québec-Uferseite zur gegenüber liegenden Stadt Lévis in beide Richtungen zu überqueren. Das haben früher die Pioniere schon so gemacht. Nur ohne Spike-besetzte Gummistiefel, mit denen die fünfköpfigen Mannschaften heute von einer Scholle zur nächsten hüpfen. Sie zerren, ziehen und schieben ihr Boot über das Eis, springen beim nächsten Spalt blitzschnell ins Boot zurück, um weiter zu paddeln - die Rekordzeit liegt bei 47 Minuten.

Am 11. Februar gehen die tollen Tage zu Ende. Bonhomme hängt seine Klamotten, mit denen er ein bisschen wie das Michelin-Männchen nach einer Schrotkur aussieht, wieder in den Schrank. Die Caribou-Trinkstöckchen kommen zurück ins Versteck. Die Weihnachtsbäume verschwinden endlich aus dem Straßenbild. Aus Sicherheitsgründen werden auch die Eisskulpturen schon mal abgebaut. Und allmählich spüren auch die Québécois, dass auf jeden Winter ein Sommer folgt

Süddeutsche Zeitung
© Beate Schümann

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