Der portugiesische Autor José Saramago liest heute Abend im Hamburger Literaturhaus.
José Saramago ist der meistgelesene und meistübersetzte portugiesische Autor. 1922 in dem Dorf Azinhaga als Sohn eines Landarbeiters geboren, arbeitete er seit 1968 als kritischer Journalist in Lissabon, seit 1975 als freier Schriftsteller. In Portugal erreichen seine Romane die mit Abstand höchsten Auflagen. Nach heftigem Streit mit der früheren konservativen Regierung Cavaco Silva über die Denunzierung des Romans „Das Evangelium nach Jesus Christus“ verlegte der erklärte Portugiese 1993 seinen Lebensmittelpunkt auf die spanische Insel Lanzarote.
Heute abend um 20 Uhr liest José Saramago im Literaturhaus aus seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch „Die Stadt der Blinden“. Wir sprachen mit dem Autor auf der Frankfurter Buchmesse, die Portugal als Schwerpunktthema gewählt hatte.
Hamburger Abendblatt: Der Dichter Eça de Queirós hat einmal gesagt, dass in Portugal nur akzeptiert wird, was aus dem Ausland kommt. Das hat sich bis heute kaum geändert. Wie ist Ihr Prestige in Portugal?
José Saramago: Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen, wie mein Prestige in Portugal ist. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich viele Leser habe und meine Bücher im Allgemeinen gute Kritiken bekommen.
Warum soll der deutsche Leser sich mit portugiesischer Literatur befassen?
Wenn wir die Wirklichkeit anderer Länder kennen lernen wollen, ist die Literatur eine der Möglichkeiten dafür. Die Gründe, warum sich der Leser für portugiesische Literatur interessieren sollte, sind genau die gleichen, warum portugiesische Leser sich für deutsche Literatur interessieren sollten. Wahr ist, dass Deutschland die portugiesische Literatur besser kennt, als Portugal die deutsche Literatur.
Sind Sie ein Anwalt für die Bewahrung der kulturellen Identität und der Unabhängigkeit kleiner Länder?
Ich bin ein Mensch, der sich um den gegenwärtigen Zustand der Welt sorgt und feststellt, dass die schwachen Länder heute wie früher von Großmächten dominiert werden. Da ich selbst aus einem kleinen Land stamme, beschäftigt mich das natürlich.
Sie beschreiben in Ihrem Roman „Die Stadt der Blinden“ den Zusammenbruch einer Gesellschaft, in der Habgier und Skrupellosigkeit herrschen. Lieben Sie Katastrophen, sind Sie ein Apokalyptiker?
Weder das eine noch das andere. Allerdings lebe ich in einer Welt, die eine reine Katastrophe ist. „Die Stadt der Blinden“ ist kein Buch über Blinde. Es ist ein Buch über Menschen, die zwar sehen können, die sich aber verhalten, als sei ihr Verstand erblindet.
Warum hat der linke Schriftsteller als Protagonistin eine Frau aus dem Bürgertum gewählt, die als einzig Sehende unter den Blinden die Menschheit rettet?
Sie rettet nicht die Menschheit. Sie rettet eine kleine Gruppe von Leuten, die von den Umständen zusammengeführt wurden. Ich bin ein linker Schriftsteller, kann aber zur Wahl meiner Hauptfigur nur sagen, dass es viele linke Menschen aus dem Bürgertum gibt, wie es viele Arbeiter gibt, die rechts sind.
Dieser Roman, wie etwa auch „Das steinerne Floß“ oder das „Evangelium nach Jesus Christus“, wirken jeder für sich wie ein komponiertes Opus, originell, umfassend und einmalig. Wie finden Sie Ihre Themen?
Normalerweise werden meine Bücher aus meinen plötzlich aufkommenden Gedanken geboren. Wenn ich ein Buch beendet habe, habe ich danach erst mal keine Idee für ein neues Buch. Ich warte einfach darauf, dass eine neue Idee auftaucht. Wenn ich das so sage, meine ich es genau so. Bis jetzt sind immer neue Ideen gekommen, und ich hoffe, dass das so bleibt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb meine Bücher von sehr unterschiedlichen Themen handeln.
Im Text findet der Leser meist ein Komma, wo er einen Punkt erwartet. Was würde sich für Sie ändern, wenn Sie Punkte setzten, wo sie hingehören?
Manchmal findet der Leser einen Punkt, wo er ihn erwartet. Die Art meiner Punktsetzung entspricht dem Mechanismus der mündlichen Erzählweise. Wenn wir sprechen, setzen wir keine Punkte. Die Sprache besteht aus Tönen und Pausen, wie in der Musik. Man könnte sagen, dass die Sprache Musik ist. Wenn wir sprechen, müssen wir unseren Zuhörern nicht sagen, wo die Fragezeichen oder Ausrufungszeichen liegen. Der Tonfall bestimmt den Inhalt. Ich will, dass mein Leser mich liest, als hörte er mich in seinem Kopf. Eine Stimme, die sagt, was er liest.
Ihr neuester Roman „Alle Namen“ ist gerade in Portugal erschienen. Wovon handelt er?
Sagen wir, das Buch handelt von der Suche nach einem Menschen.
Interview: Beate Schümann. Hamburger Abendblatt
© Beate Schümann