An Bord des betagten Segelschiffes Grethe Witting auf einem Hanse-Segeltörn in der Ostsee: Wismar, Rostock, Stralsund – wer auf dem Hansetörn lernt alte Hansestädte kennen und atmet frische Seeluft ein. Wie einst die Seefahrer können Landratten heute an Bord des Gaffelseglers durch die See kreuzen.
„Und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird liegen am Kai ...!“ Der Song von der Seeräuber-Jenny dröhnt uns schaurig-schön vom Deck des stattlichen Oldtimers entgegen. Dabei stammen weder Brecht noch der am Kai vertäute Segler aus der Zeit der Seeräuberzeit. Egal: Im alten Wismarer Hafen, wo alles noch ein bisschen nach Hanse und voll beladenen Koggen riecht, bringt das Lied die Mannschaft in die richtige Stimmung.
Noch ragen die beiden Masten nackt in den blauen Himmel. Doch die im Wind klappernden Wanten erzählen schon vom Fernweh, und die Wellen glucksen betörend zwischen Holz und Hafenkai. Jenny geht uns nicht aus dem Kopf, selbst beim Koje-Belegen nicht. „Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen und ich mache das Bett für jeden, ... dies lumpige Hotel ...“ Wir müssen lachen, denn ganz so schlimm ist es nicht. Die Kajüten auf der „Grethe Witting“, so heißt unser Schiff, sind sogar eher geräumig und komfortabel. Es fehlt an nichts, das hat die erste Inspektion des 30 Meter langen Schiffes bereits ergeben: Spültoiletten, eine Bibliothek, eine mit Sekt und Selters gut gefüllte Kombüse und ab morgen ist auch der Smutje da.
„Alle Mann an Deck!“, ruft jemand durch die Luke. Oben machen wir mit dem Bootsmann, besser: der Bootsfrau, Bekanntschaft. „Wenn ich sage ‚loslassen‘, heißt das – Tau fallen lassen und nicht noch weiter in den Händen festhalten. Ist das klar?“ Eifriges Kopfnicken bei der 15 köpfigen, weitgehend segelunerfahrenen Mannschaft. Sabines Befehle sind klar genug. Bevor der hochseetüchtige Gaffelsegler von 1914 morgen in See sticht, verpasst sie den Landratten einen Schnellkurs in Knoten, Segelsetzen und Schiffsmanöver. Der Rest der Besatzung, Maat Christian und Uwe, der Maschinist, packen mit an.
Nachdem Pahlstek und Segelraffen leidlich sitzen, geht’s zum Landgang runter vom Schiff. Wismar, der Startpunkt des Hansetörns, hatte einst an der Ostsee einen klingenden Namen. Während Lübeck sich als „Königin der Hanse“ brüstete, rühmte Wismar sich als ihre „Perle“. Wie Edelsteine sitzen die glasierten Ziegel im „Alten Schweden“, dem Prunkstück unter den Patrizierhäusern am Marktplatz. Die Blendfassade strotzt bis unter die Giebelspitze vor Standesbewusstsein. Dank der Kontrolle über Seewege und der Handelsmonopole für Tuch, Salz, Pelzen und Honig waren Macht und Reichtum der Hansestädte beispiellos gewachsen. Die grandiose Architektur der Backsteingotik sollte der Welt zeigen, wer hier die wahren Herrscher waren: Nicht die Landesfürsten, sondern die Kaufleute.
Für seine damals gut 5000 Einwohner leistete Wismar sich drei Großkirchen: St. Nikolai mit einem 37 Meter hohen Mittelschiff, St. Marien, von der nur noch der wuchtige Turm noch steht, und St. Georgen, die selbst als Ruine Majestät bewahrt hat. Die Unesco hat deshalb Wismar und Stralsund, Hansekollegin seit 1293, gerade ins Welterbe aufgenommen. Abends an Deck erzählt der holländischer Skipper Wim Ruiter, seit mehr als zehn Jahren Chef auf dem Trawler, noch bis Mitternacht von seinen Seeabenteuern. Etwas Seemannsgarn ist auch dabei. Nach der dritten Flasche Bier ist Seeräuber-Jenny wieder unter uns. „... Und der Penny wird genommen und das Bett wird gemacht. Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht ...“ Viel später wiegen uns die Wellen in den Schlaf. Am nächsten Morgen versüßt uns der Smutje das frühe Aufstehen mit frischen Brötchen, Schinken, Rührei und Krabben. Dann heißt es „Leinen los!“ Blitzartig schnellen die 437 Quadratmeter Segel die Masten hoch. Atemberaubend. Maat Christian wickelt die schwarze Seeräuberfahne aus, hisst dann aber doch lieber die von Mecklenburg-Vorpommern. Scherz gelungen. Doch bei Windstärke drei flattern die Segel nur lustlos vor sich hin. Uwe wirft den Motor an. Das Fahrwasser ist nicht betonnt, aber der Kapitän kennt sich aus. Der 59-jährige Seebär lenkt seine betagte Dame stur und steif ostwärts, immer an der Küste entlang. Unter seinem wachsamen Auge darf jeder einmal das honigfarbene Holzsteuerrad übernehmen.
„Ein bisschen Bewegung gefällig?“, ruft Sabine den Sonnenanbetern zu, ein Angebot, mit ihr in die Wanten und zum Mast hoch zu krabbeln. Mutige vor! Bis zur Rahe sind es locker fünfzehn Meter. Ein alpiner Klettergurt sichert den angehenden Mastgucker, der über die Reling in die Leiter aus Tauen klettert. Doch die Courage ändert sich mit der Perspektive. Während „Grethe Witting“ ungerührt mit dem Bug weiter ein- und auftaucht, werden die Knie mit jeder Sprosse weicher. „Nicht nach unten schauen“, warnt Sabine. Oben angekommen, entschädigt der Blick auf die weite See und das meterlange Holzschiff für das Zähneklappern.
Vorbei am Leuchtturm von Bastorf und dem legendären Seebad Heiligendamm, steuert die „Grethe“ auf Warnemünde zu, wo sie für die Nacht Station macht. Die Hansestadt Rostock, die 1259 den Bund mit Lübeck und Wismar schloss, liegt an der Warnow weiter landeinwärts. Deshalb hatten die Pfeffersäcke 1323 das kleine Fischerdorf an der Warnowmündung kassiert, um ihren Koggen die ungehinderte Einfahrt zu sichern. Die Rostocker Speicher erinnern noch an die riesigen Warenmengen, die hier einst umgeschlagen wurden: Weine aus Spanien und Frankreich, Pelze und Holz aus Nowgorod, Robbenspeck und Felle aus Norwegen. Und auch hier stehen die Backsteinkirchen in Dimension und Pracht den Schwestern im Süden keinen Deut nach.
Am zweiten Tag macht Windgott Rasmus wieder einen schläfrigen Eindruck. Mit Sonnencreme bewaffnet, legt sich die fidele Hobbymannschaft auf die Holzplanken, während der Trawler gen Stralsund schaukelt. Von fern klingen Christians Geschichten von Vineta, dem baltischen Atlantis, über dessen Lage die Historiker beständig streiten; von Piraten wie Störtebeker und Gödeke Michel, die an den seichten Küsten keine rechten Verstecke fanden, weshalb das von ihnen getriebene Unwesen eher klein gewesen sein dürfte.
Erst das Anlegemanöver an der Zingster Seebrücke rüttelt alle aus dem Schönheitsschlaf. Sofort sammelt sich am Kai eine Traube neugieriger Feriengäste, für die der maritime Oldtimer eine willkommene Abwechslung von Dünen, Boddenlandschaft und Rapsfeldern ist. Am nächsten Morgen, als die Dünen von Zingst schon zum Sandhaufen geschrumpft sind, frischt der Wind plötzlich auf, und es kommt doch noch etwas Hochseefeeling auf. Hart am Wind geht „Grethe“ in Schräglage und fährt zügig auf Stralsund zu. Eine faszinierende Skyline aus Giebelhäusern und Kirchturmspitzen zeigt sich zur Seeseite hin.
Letzter Landgang zu diesem Flächendenkmal mit 811 geschützten Gebäuden, mit malerischen Gassen und Plätzen, das an einem Tag kaum zu meistern ist. „... und es werden kommen hundert gen Mittag an Land ...“ lässt einer noch einmal unsere Lieblingsballade erklingen. Wenn noch weit mehr vor dem Backsteinensemble aus Rathaus, Bürgerkirche und Giebelhäusern am Alten Markt stehen und staunen, wäre das kein Wunder. Die filigranen Türmchen, Giebel und Windlöcher schmücken die Schauwand über dem Rathaus wie Brüsseler Spitzen. Wand an Wand schmust das Stadtpalais mit der mächtigen Nikolaikirche, die der Bürgerstolz 1276 auftürmte. Niemand zweifelt, dass der Kommerz in der sonst schläfrig wirkenden Stadt einmal den Ton angab.
Am Abend werden die Seesäcke gepackt, die Kojen geräumt. Die Freizeitsegler verlassen die „Grethe Witting“ nicht als sinkendes Schiff. Der Sonnenbrand auf der Nase, der leicht schaukelnde Gang und ein bisschen Fernweh sind noch einige Tage nach dem Hansetörn spürbar. Aber irgendwann ist auch der Seeräuber-Jenny-Ohrwurm verklungen.
Südwest-Presse
© Beate Schümann